Portrait von Meike Seidel

Meike Seidel

Hallo zusammen!

Ich bin Meike Seidel, die Gründerin des Unternehmens SonicView und diejenige, die seit 2015 die Vision eines barrierefreien Lebensmitteleinkaufs für sehbehinderte und blinde Menschen verfolgt und vorantreibt.

Ursprünglich ist SOVI das Ergebnis einer Master-Abschlussarbeit und sollte auch eine theoretische Arbeit bleiben. Auf die Frage „Wie wäre es, ein Projekt daraus zu machen und das Ganze in die Realität umzusetzen?“ antwortete der Erstprüfer: „Lass es. Du wärst ein Goldfisch im Haifischbecken“.

Nach meinem Master-Abschluss in 2015 hatte ich im Grunde genommen von nichts Ahnung: Ich wusste wenig über den Alltag blinder Menschen, nichts vom Lebensmittelhandel, von Produktdaten, von Accessibility, von IT generell. Ich wusste nichts über BWL, Steuern, Gründung und erst recht nicht, wie man ein Unternehmen leitet oder ein großes Forschungsprojekt an Land zieht. Ich hatte lediglich ein abgeschlossenes Studium, ein enormes Vorstellungsvermögen und einen ausgeprägten Dickkopf.

Inzwischen bin ich zur Expertin auf den Gebieten Design Thinking, Human Centered Design, Accessibility und digitale Barrierefreiheit herangewachsen, halte Vorträge, gebe Seminare und leite nicht nur mein StartUp SonicView, sondern auch das vom BMBF geförderte Forschungsprojekt ARGUS. Für diejenigen unter euch, die sich für die Entstehungsgeschichte und den Werdegang interessieren, schreibe ich die Hintergründe, Rückschläge und Erfolge der letzten Jahre hier gern einmal auf.

Die Story hinter SOVI

Als ich 2014 in meiner Abschlussarbeit im Fachbereich Innenarchitektur einen inklusiven Wohnkomplex für unterschiedliche Zielgruppen plante, setzte ich mich intensiv mit verschiedenen Behinderungen auseinander, unter anderem mit Sehbehinderung und Blindheit.

Während der Recherche begegnete ich einer Frau, die mich sehr beeindruckt hat: Sie war blind, arbeitete als Lehrerin an einer Blindenschule und wohnte in einem wunderschönen Haus, das sie gemeinsam mit einem Architekten eigens für sich geplant hatte. Außerdem besaß sie ein Pferd, das sie auch im Gelände ritt – und das alles mit weniger als 2% Sehkraft! Als diese starke und selbständige Frau einst beiläufig erwähnte, dass sie niemals in ihrem Leben freiwillig und ohne Not einen Supermarkt betreten würde, begriff ich, dass wir ein strukturelles Problem haben – und der Samen für SoVi war gesät.

Bild von einem Tisch aus der Vogelperspektive, an dem acht Menschen m miteinander anstoßen

Zeitgleich zu meinem gesamten Studium war ich Mutter. Ich zog meinen kleinen Sohn groß (der inzwischen gar nicht mehr so klein ist) und erlebte durch ihn einen weiteren Schlüsselmoment, der SoVi nachhaltig prägen sollte. Der kleine Mann saß eines Tages im Alter von 4 Jahren auf dem Wohnzimmerteppich und spielte mit dem TipToi-Stift. Wer es nicht kennt: Ein orangefarbener Stift, der Ähnlichkeiten mit einer Karotte besitzt, liest Texte vor oder macht Tiergeräusche, wenn mit seiner Infrarot-Spitze auf Flächen getippt wird, die mit einem nahezu unsichtbaren Code versehen sind. Da mein Kind noch nicht lesen konnte, war dieses Spielzeug ein fantastischer Zeitvertreib – und in diesem Moment auch eine wichtige Inspirationsquelle für die Entstehung von SoVi: Ein solches System müssten wir in die Supermärkte übertragen! Wir müssen eine Verpackung einfach nur antippen und sofort vorgelesen bekommen, was drin ist – so einfach müsste es sein.

Schieflage

Nach dem Bachelor-Abschluss im Bereich Innenarchitektur folgte der Master im Fachbereich Design und Medien – und hier konnte der Keim im Beet einer Masterthesis tatsächlich austreiben. Eine Problemanalyse ergab, dass bereits die grundlegende Voraussetzung für einen Lebensmitteleinkauf für blinde Menschen nicht gegeben ist: Der Zugang zu Informationen. Wir Menschen fliegen zum Mond, wir transplantieren Organe, schießen Autos ins All, aber wir sorgen nicht dafür, dass alle Menschen in unserer Gesellschaft selbständig an grundlegende, im Zweifel überlebenswichtige Informationen gelangen.

Wir feiern uns für unsere Globalisierung und driften immer weiter auseinander. Wo früher die Familiensippe das soziale Netz gebildet und für jedes Mitglied einen Platz bereitgehalten hat, sind die einzelnen Haushalte heute immer kleiner, Menschen zunehmend für sich selbst verantwortlich, oft allein. Gleichzeitig haben wir es immer eiliger und unsere Ernährung verkompliziert sich mit wachsendem Angebot.

Bild von einer jungen Frau im Supermarkt

Die ursprüngliche Idee, Verpackungen flächendeckend mit einem unsichtbaren Code zu versehen und dann mit einem entsprechenden Gerät auszulesen, um anschließend alle aufgedruckten Informationen in auditiver Form zu bekommen, erhielt 2015 überraschend den Newcomer Innovationspreis.

Später folgte der Zusammenschluss mehrerer Menschen, die aus dem Bereich IT-Entwicklung, Wirtschaft, aus der Verpackungs- und der Lebensmittelindustrie und einigen anderen Bereichen stammten. Ich begegnete mit SoVi vielen Unterstützern ohne die das Projekt an verschiedenen Stellen gescheitert wäre, erfuhr aber auch eine Menge Gegenwind. So wurde ein Exist-Förderstipendium mit vernichtender Beurteilung abgewiesen, Wirtschaftsförderer redeten viel aber förderten nicht und das Projekt zog sich nicht zuletzt aufgrund fehlender finanzieller Unterstützung in die Länge. Auch hieß es, die Zielgruppe „blinde Menschen“ sei zu klein für ein rentables Projekt, gleichzeitig galt die Zielgruppe „alle Menschen die essen und trinken müssen“ als lächerlich groß. Sich als einstige Innenarchitektur-Studentin durch das Gebirge aus Wirtschaft, Recht, Technik, Lebensmittel und Soziologie zu schlagen bedeutete enorm viel Mühe und Zeit.

All die Rückschläge konnten jedoch eines nicht bewirken: Ein Aufgeben. Immer wieder kreuzten Menschen den Weg, die SoVi in den Bann zog und die teilweise bis heute ein Teil des Projekts sind. Auch trieb mich fortwährend mein unerschütterlicher Dickkopf weiter, den nächsten Schritt zu gehen – sei er auch noch so klein und scheinbar unbedeutend. Am Ende war jeder einzelne Schritt wichtig und hat SoVi, mich und alle, die das Projekt begleiten, dahin gebracht, wo wir heute sind:

Seit Mai 2022 ist die SoVi App im AppStore und im PlayStore verfügbar. Sie kann neben dem Barcode auch die flächendeckende Codierung (DW Code) von Verpackungen lesen, die es inzwischen in einige Lebensmittelmärkte geschafft hat. Viele sehbehinderte und blinde Menschen sind sehr begeistert und verwenden SoVi in ihrem Alltag. Gleichzeitig spricht die App eine ganze Reihe weiterer Zielgruppen an und trägt damit den inklusiven Leitgedanken in die Welt:

Wir alle müssen essen und trinken. Niemand hat Bock auf das Kleingedruckte von Verpackungen. 

Wir lieben das gemeinsame Essen, die Geselligkeit und die Verbindung – und sind gleichzeitig höchst individuell in unseren Prämissen und Beschränkungen. Wir sollen und können dank SoVi genau so zusammenkommen, wie wir sind: Verschieden, und doch eins.